Requiem op. 89

Entstehung: 1890

Uraufführung: 9. Oktober 1891 in Birmingham

Spieldauer: ca. 95 Minuten

Seit 1526, als Böhmen und Mähren von den Habsburgern vereinnahmt wurden, standen die ehemaligen tschechischen Kronländer unter dem Einfluss und der Verwaltung Österreich-Ungarns; Mährisch-Schlesien wurde eine zeitlang durch Preußen regiert. Dadurch war die kulturelle Entwicklung gezwungenermaßen fremd beeinflusst. Doch dann kam es Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer Wende: Ausgangspunkt war die Neuorientierung nach den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress. Zahlreiche Völker Europas vergewisserten sich nun ihrer Identität als Kulturnation. Sie besannen sich auf ihr altes Brauchtum, ihre Volkslieder und Epen. Durch die Nationalbewegung und die Revolution von 1848/49 konnten die Tschechen wieder ein Selbstvertrauen aufbauen, welches sich auch in der Musik bemerkbar machte. Die neue Periode begann mit dem Zweigestirn Smetana/Dvořák. Sie gingen eigene, national geprägte Wege. Die tschechische Romantik erreichte ihren Höhepunkt. Die Komponisten waren nun Botschafter ihrer Nation, da sie Werke von internationalem Rang schufen, die auch im Ausland Anerkennung fanden.

Schon bei seinen Zeitgenossen galt Antonín Dvořák gemeinsam mit Smetana als profiliertester Repräsentant eines eigenständigen tschechischen Nationalstils. Eduard Hanslick meinte dazu, von seinen Werken gehe der »exotische Duft czechier Flora« aus. Josef Bohuslav Foerster bezeichnete Dvořák als den »Propheten der tschechischen Kunst«. Über den musikalischen Erfindungsreichtum Dvořáks meinte der Freund Johannes Brahms: »Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben.« Und Dvořák hatte im Laufe seines Lebens tatsächlich unzählige Ideen. Aber es brauchte einige Zeit bis zum Erfolg. Viele seiner frühen Kompositionen landeten in der Schublade oder fielen den Flammen zum Opfer. Der nationale Durchbruch gelang ihm 1873 mit dem Hymnus »Die Erben des Weißen Berges«. Daraufhin entstanden Werke wie die erste Folge der »Slawischen Tänze«, die »Klänge aus Mähren« und das »Stabat Mater«. Dvořáks Ruhm wuchs – erst national, bald auch international. Ab 1878 unternahm er viele Reisen und trat als Dirigent in Erscheinung. Besonders die Engländer liebten die Musik des tschechischen Komponisten.

Seit 1884 war Dvořák mehrmals nach England gereist und hatte dort äußerst erfolgreiche Konzerte gegeben. Man nannte ihn den »böhmischen Brahms« und pries ihn als »Löwe der heurigen Musiksaison«. Die London Philharmonic Society ernannte ihn sogar zu ihrem Ehrenmitglied. Dvořák war tief beeindruckt von der Hauptstadt des englischen Weltreichs, die mehr Einwohner zählte als »die gesamte tschechische Einwohnerschaft von Böhmen«, wie er seinem Vater schrieb. Erstaunt war er auch über die Größe der Royal Albert Hall mit ihren 12.000 Zuhörerplätzen: »Wenn die gesamte Einwohnerschaft Kladnos [dort wohnte Dvořáks Vater damals] den ungeheuren Saal besuchen würde, wo ich mein Stabat Mater dirigiert habe, so wäre dort noch immer Platz genug, denn so kolossal ist die Albert Hall.« Über seinen außerordentlichen Erfolg mit dem »Stabat Mater« berichtete Dvořák außerdem: »Im Konzerte wurde ich gleich beim Eintreten vom Publikum mit stürmischem Beifall empfangen. Von Nummer zu Nummer wuchs die allgemeine Begeisterung und gegen Ende war der Applaus so groß, dass ich dem Publikum immer wieder danken musste.«

Die Engländer verfügten damals wie heute über eine große Chortradition und waren begeistert von geistlichen Werken. Schon Händel, Haydn und Mendelssohn wurden für ihre bedeutenden Werke in Großbritannien gefeiert. Dvořák schrieb nach dem »Stabat Mater« noch weitere Chorwerke für Aufführungen in England, darunter 1885 die Kantate »Die Geisterbraut« und ein Jahr später das Oratorium »Die heilige Ludmilla«. 1887 erhielt er dann aus Birmingham den Auftrag, ein oratorisches Werk für das traditionsreiche Musikfest zu schreiben. Der Vorschlag des Komitees war eine Vertonung des Textes zu »The Dream of Gerontius« von Kardinal John Henry Newman (15 Jahre später sollte Edward Elgar daraus ein eindrucksvolles Oratorium machen). Dvořák gefiel das Thema nicht und er lehnte ab – als gläubiger Katholik hatte er aber bereits die Idee eines Requiems im Kopf. Schon früh, als er 1857 die Prager Orgelschule besuchte, war er mit geistlichen Werken in Berührung gekommen. In einem Interview äußerte er sich später darüber mit den Worten: »Ich mußte selbst lernen, wie man einen bezifferten Baß zu lesen hatte. Ich kann kaum sagen, wie ich das anstellte, aber nach kurzer Zeit schon, als ich dann die Orgel im Gottesdienst spielte, spielte ich, als ob es nichts wäre, ganze Messen an Hand des in den alten Manuskripten niedergeschriebenen Generalbasses. Natürlich waren das nicht immer solche Messen wie die, die wir bei dem jährlichen Kirchweihfest gaben, wo Werke wie Cherubinis d-Moll-Messe, Haydns d-Moll-Messe und Mozarts C-Dur-Messe zur Aufführung kamen. Ach, diese Aufführungen jedes Jahr! Heute rufen sie ein Lächeln hervor, aber damals liebte ich sie sehr! Und in der Tat waren sie es, die in mir das Gespür für Musik entwickelten und die Sehnsucht erweckten, ein richtiger Musiker zu werden.«

Dvořák begann die Arbeit an seinem Requiem im Januar 1890. Gleichzeitig ging er auf Konzertreisen – so auf Einladung des Freundes Tschaikowsky nach Russland und auch wieder nach England. Aber er arbeitete intensiv sogar unterwegs an dem neuen Werk: So steht im Kopftitel des achten Satzes (»Lacrimosa«): »Geschrieben in Köln am Rhein auf der Reise nach London«. Im Frühjahr setzte er die Komposition auf seiner Sommerresidenz im südböhmischen Vysoká fort. Erschöpft von den vielen Auslandsaufenthalten meinte er einmal: »Ich bin froh, wenn ich zu Hause sitze.« Im Juli war das Requiem fertig skizziert, doch erst im Herbst schloss er die Reinschrift seines Opus 89 in Prag ab. Am 17.11.1890 notierte er: »Das Requiem ist, Gott sei Dank, fertig.« Am 9. Oktober 1891 – während seiner achten Englandreise – fand in Birmingham die Uraufführung unter seiner Leitung statt. Sie war ein überwältigender Erfolg.

Dvořák war sich der britischen Chortradition sehr bewusst – und so schrieb er mit dem Requiem ein Werk, das dem Chor eine außerordentliche Rolle zuweist: Bis auf eine Ausnahme sind alle 13 Teile mit Chorpartien versehen. Dvořák stellte sich mit seinem Requiem zudem einer ganz besonderen Aufgabe: Die Säkularisierung bestimmte im 19. Jahrhundert das geistige Leben in zunehmendem Maße. Es galt nun, mit den neuen musikalischen Möglichkeiten die Tiefenschichten des liturgischen Textes, dessen gesellschaftliche und alltägliche Präsenz schwächer wurde, auszuloten und zu bewahren. Die kompositorische Fantasie war besonders gefordert, um die Botschaft von Tod und Jüngstem Gericht, von Trauer, Angst, Hoffnung und Trost zu versinnbildlichen. Dvořák, der große Melodiker, war prädestiniert für diese Aufgabe. Mit seinem Requiem gelang ihm ein Werk, das durch eine äußerst intensive Tonsprache besticht. Ihm war auch sehr daran gelegen, die katholische Kirchenmusik in seinem Land zu erneuern. Schon anlässlich seiner Messe op. 86 hatte er 1887 betont, dass für ihn Gläubigkeit eine notwendige Voraussetzung für die Komposition geistlicher Werke sei. Er meinte: »Wundern Sie sich nicht, daß ich so gläubig bin – aber ein Künstler, der es nicht ist – bringt nicht solches zustande.«

Dvořák teilte den Text in zwei große, musikalisch unterschiedliche Blöcke: Der erste, der bis zum »Lacrimosa« reicht, handelt von der Rache-Utopie des Jüngsten Gerichts. Schwermütig dreht er sich thematisch um Trauer, Schmerz, Angst und Schrecken. Dvořák bringt dazu eine gewaltige und sehr düstere musikalische Untermalung: Kühne Klangphantasien prägen diesen vom »Tag des Zorns« beherrschten Abschnitt. Das »Dies irae« ist fast ein musikalisches Fegefeuer. Der zweite Block, beginnend mit dem »Offertorium«, ist dagegen heller und freundlicher in der Tonfarbe – und mit dem Melodienreichtum tschechischer Musik gespickt. Dvořák verleiht dem ganzen Werk eine innere Einheit, indem er Leitmotivik verwendet: Das prägende Vierton-Motiv – eine chromatische Umkreisung des Tones »f« – erklingt gleich am Anfang wie aus dem Nichts einstimmig in den gedämpften Streichern. Es erinnert deutlich an das Anfangsmotiv aus dem zweiten Kyrie der h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach, mit dem sich Dvořák sehr verbunden fühlte – gerade, was die Komposition von geistlichen Werken anging. An wichtigen Angelpunkten des Requiems taucht dieses Motiv als Symbol für die Allgegenwart des Todes auf – zum Beispiel äußerst eindringlich zu Beginn des »Tuba mirum«, des Rufes zum Jüngsten Gericht: Beklemmend wird es hier mehrmals wiederholt – bis die Musik stockt und nach einer bewegenden Pause wirkungsvoll der Alt-Gesang einsetzt.

Das Requiem entwickelt sich insgesamt nicht als dramatische Bilderfolge. Dvořák wählte einen eher lyrischen Charakter für seine Vertonung. Die einzelnen Abschnitte sind in sich geschlossen und meist eher verhalten auskomponiert – mit einigen Ausnahmen: So erhält zum Beispiel die Vertonung des »Quid sum miser«, in dem es um die menschliche Furcht geht, einen fragenden und sehr fesselnden Unterton. Solisten und Chor sind im ganzen Requiem eng verzahnt. Nur einen Solosatz gibt es: das liedhafte Quartett »Recordare«, welches von Menschlichkeit handelt und wie eine idyllische Insel innerhalb des ganzen Werkes wirkt. Im darauf folgenden »Confutatis maledictis« versinnbildlicht das Orchester mit jagenden Skalen das Entsetzen vor dem Höllenfeuer – bis der Chor innig um Erlösung bittet: Expressiv steigert sich das »Lacrimosa« und endet leidenschaftlich mit einem »Amen«. Auf die sonst üblichen, traditionellen Chorfugen in Requiem-Vertonungen verzichtet Dvořák weitgehend – bis auf die zuversichtliche Stelle »Quam olim Abrahae promisisti« im »Offertorium«. Die Melodie dieser kunstvollen Fuge entstammt dem uralten böhmischen Kirchenlied »Fröhlich laßt uns singen, Gott den Vater preisen«. Sanft wiegend präsentiert sich das Einströmen des Lichtes im »Benedictus« des feierlichen »Sanctus«. Ständig sind volksliedhafte Wendungen zu vernehmen. Holzbläser ahmen die Engelsflügel nach. Dvořák gelingt hier eine sehr persönliche Atmosphäre: Er prägt den liturgischen Text durch das Emotionale seiner Musik. Am Schluss des Requiems, im ergreifenden »Agnus Dei« mit seiner apotheosenhaften Wirkung bis zum „Lux aeterna“, greift Dvořák bewusst auf den Anfang zurück – und macht nun endgültig klar, dass das Leitmotiv als das Todesmotiv letztendlich das wichtigste Thema des Werkes ist. In leisen Akkorden klingt das Requiem andächtig aus.

Heidi Rogge

Antonín Dvořák
Antonín Dvořák

Historie

12.11.2017 - Stille und Ekstase

Ion Marin Dirigent

Dvořák Requiem op. 89

EuropaChorAkademie

Solisten der Mariinsky-Akademie St. Petersburg